Der EuGH hat mit Urteil vom 08.05.2025 auf zwei Vorlagefragen eines belgischen Gerichts zur Auslegung von Art. 4 lit. b) (i) der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 (sog. Vertikal-GVO) Stellung genommen. Im Mittelpunkt stand die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Alleinvertriebsvereinbarung, die einem Händler ein exklusives Vertriebsgebiet zuweist, vom Kartellverbot ausgenommen werden kann.
Konkret hat der EuGH folgendes geantwortet:
Das bedeutet, dass die Gewährung eines exklusiven Vertriebsgebiets durch einen Anbieter an einen (Vertrags-) Händler zwangsläufig mit der parallelen Verpflichtung für diesen Anbieter verbunden sein muss, den Exklusiv-Händler vor aktiven Verkäufen durch alle anderen Abnehmer/Händler des Anbieters zu schützen.
Die bloße Feststellung, dass andere Abnehmer nicht aktiv in dem einem bestimmten Abnehmer ausschließlich zugewiesenen Gebiet verkaufen, reicht in diesem Zusammenhang für sich genommen nicht aus. Vielmehr (i) muss der Anbieter die anderen Abnehmer aufgefordert haben, nicht aktiv in das einem anderen Abnehmer ausschließlich zugewiesene Gebiet zu verkaufen, und (ii) die betreffenden Abnehmer müssen dieser Aufforderung zumindest stillschweigend zugestimmt haben.
Damit hat der EuGH erstmals anerkannt, dass Art. 4 lit. b) (i) der Vertikal-GVO eine „Bedingung der parallelen Auferlegung“ enthält, obwohl dieser Artikel eine solche Bedingung nicht ausdrücklich nennt.
Die Entscheidung befasst sich zwar mit der alten Vertikal-GVO, die durch die Verordnung (EU) Nr. 2022/720 abgelöst wurde. Gleichwohl ist die Entscheidung auch für die neue Vertikal-GVO von Bedeutung, die in Art. 4 ähnliche Regelungen enthält. Die – rechtlich nicht verbindlichen – Leitlinien der EU-Kommission zur aktuellen Vertikal-GVO, regeln die Bedingung der parallelen Auferlegung sogar ausdrücklich.
Die Brisanz der Entscheidung liegt darin, dass der Anbieter seinen Abnehmern/Händlern grundsätzlich nicht verbieten darf, in bestimmte Gebiete oder an bestimmte Kunden zu verkaufen. Derartige Verbote stellen eine unzulässige sog. Kernbeschränkung dar, die in zivilrechtlicher Hinsicht nichtig ist und ggf. sogar zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages führen kann.
Art. 4 lit. b) (i) der „alten“ Vertikal-GVO statuierte eine Ausnahme der Unzulässigkeit für Beschränkungen des aktiven Verkaufs in Gebiete oder an Kundengruppen, die der Anbieter sich selbst vorbehalten oder ausschließlich einem anderen Abnehmer zugewiesen hat (nach der aktuellen Vertikal-GVO kann der Anbieter die Exklusivität auf höchstens fünf Alleinvertriebshändler erweitern).
Durch die Entscheidung des EuGH kann ein undurchdachtes Alleinvertriebssystem schnell zum Drahtseilakt werden. Eine nicht aktualisierte Exklusivität, und der Vertrag enthält mit dem Verbot des aktiven Vertriebs eine Kernbeschränkung, da (i) entweder das neue Alleinvertriebsgebiet nicht gegen aktiven Vertrieb der anderen Abnehmer/Händler oder (ii) das nicht mehr exklusive Gebiet immer noch gegen aktiven Vertrieb geschützt ist.
Zwar hat die EU-Kommission in den Leitlinien zur aktuellen Vertikal-GVO zu erkennen gegeben, dass vorübergehende Lücken im Alleinvertriebssystem die Freistellung nicht entfallen lassen. Im Zweifel muss aber die Partei, die sich auf die in Rede stehende Ausnahme der Beschränkung aktiven Verkaufs beruft, den Beweis erbringen, dass die beiden oben genannten Umstände vorliegen. Die Ausnahme ist dann für den Zeitraum gewährt, für den dieser Beweis erbracht werden konnte.
Die Entscheidung betrifft auch kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) mit geringen Marktanteilen, da das Verbot von Kernbeschränkungen, also insbesondere Gebiets- und Kundenkreisbeschränkungen, die den Anforderungen der Vertikal-GVO nicht genügen, keine bestimmten Mindest-Marktanteile voraussetzt.
Sollten hierzu Fragen aufkommen, stehen wir Ihnen selbstverständlich zur Seite.